Ein Junge sitzt traurig auf einem Sofa und hält ein Kissen im Arm. Eine erwachsene Person legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter.Ein Junge sitzt traurig auf einem Sofa und hält ein Kissen im Arm. Eine erwachsene Person legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
 
 

Tipps

18 Nov., 2025
4 Minuten
Lukas Maher

ADHS bei Kindern

Was Eltern wissen sollten

Max kann nicht zuhören und bringt seine Schulaufgaben nie zu Ende. Mira vergisst ständig ihre Schulsachen oder ihren Turnbeutel und lässt sich leicht von Geräuschen ablenken. Beide müssen immer wieder ermahnt werden, sitzen zu bleiben und ihre Aufgaben fortzusetzen. Und beide springen häufig von einer Tätigkeit zur nächsten, ohne etwas abzuschließen.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Vielleicht klingt es nach Szenen aus dem eigenen Alltag. Oft heißt es dann schnell: „Kinder sind halt so“ oder „die brauchen nur eine strengere Erziehung“. Aber stimmt das wirklich? Natürlich sind Kinder aktiver, impulsiver und überschwänglicher als Erwachsene – das gehört zur Entwicklung dazu. Doch wenn solche Verhaltensweisen zum ständigen Begleiter werden, kann auch etwas anderes dahinterstecken: Bei etwa fünf Prozent1 aller Kinder liegt eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor.
 

ADHS ist keine Erziehungsfrage

Viele Eltern fragen sich irgendwann: „Haben wir etwas falsch gemacht?“ Die klare Antwort lautet: Nein. ADHS ist keine Erziehungsfrage, sondern eine neurobiologische Besonderheit. Das Gehirn verarbeitet Reize, Aufmerksamkeit und Impulse etwas anders.

Kinder mit ADHS haben es deshalb schwerer, ihre Aufmerksamkeit zu steuern oder Impulse zu kontrollieren. Das liegt unter anderem an genetischen Faktoren und bestimmten Botenstoffen im Gehirn. Und gleichzeitig heißt das nicht, dass diese Kinder sich gar nicht konzentrieren könnten. Im Gegenteil: Manche können so tief in eine Sache eintauchen, dass sie alles andere ausblenden – wenn es sie wirklich interessiert. Dieses Phänomen nennen Fachleute Hyperfokus.
 

ADHS ist mehr als Aufmerksamkeit

Das Problem bei ADHS ist nicht nur, dass die Aufmerksamkeit schnell abschweift. Vielmehr geht es um eine andere Art, ADHS ist mehr als Aufmerksamkeit. Fachleute sprechen von den exekutiven Funktionen2 – unserem inneren Regiezentrum.

Wir brauchen diese Funktionen, um uns zu merken, was wir gerade tun sollen (Arbeitsgedächtnis), nicht sofort jedem Impuls nachzugeben (Inhibition), auch bei Störgeräuschen weiter an Matheaufgaben zu arbeiten (Aufmerksamkeitssteuerung), die Schultasche richtig zu packen (Planung und Organisation) – und um mit Frust umgehen zu können (Selbstregulation).

Viele dieser Fähigkeiten sind bei Kindern mit ADHS beeinträchtigt. Das erklärt, warum sie im Schulalltag so oft anecken, obwohl sie eigentlich genauso klug sind wie andere Kinder.
 

Mehr als nur „Zappel-Philipp“

ADHS sieht bei jedem Kind ein bisschen anders aus. Manche sind verträumt und wirken, als ob sie in ihrer eigenen Welt leben. Andere sind ständig in Bewegung.

Gerade bei Mädchen zeigt sich oft das verträumte Bild. Weil von ihnen erwartet wird, still und angepasst zu sein, fällt ihre ADHS seltener auf. Während Jungen ihre innere Unruhe eher laut herauslassen, verarbeiten Mädchen sie oft nach innen. Das kann zu Ängsten führen – und dazu, dass ihre ADHS lange unentdeckt bleibt. Rund drei Viertel der betroffenen Mädchen erhalten ihre Diagnose erst als Erwachsene3. Dabei wäre eine frühe Unterstützung so wichtig, um Selbstwertprobleme, Schulschwierigkeiten oder seelische Belastungen zu vermeiden.
 

Mehr als Tabletten – Unterstützung, aber richtig

Wenn ADHS erkannt wird, geht es nicht nur um Medikamente. Entscheidend ist ein ganzheitlicher Ansatz: Aufklärung, Elternberatung, Unterstützung in der Schule, Psychotherapie – und manchmal eben auch Medikamente.

Im Alltag helfen ganz einfache Dinge:

  • feste Strukturen und klare Regeln
  • kurze Arbeitsphasen mit Pausen
  • visuelle Hilfen wie Checklisten oder Timer
  • ausreichend Bewegung, damit die Energie raus kann und das Einschlafen leichter fällt


Kurz: ADHS ist keine Erziehungsfrage. Aber Eltern können ihr Kind unterstützen, indem sie gemeinsam mit Fachleuten eine Umgebung schaffen, die ADHS-gerecht ist.
 

Aufmerksamkeitsdefizit oder Kreativüberschuss?

So anstrengend ADHS im Alltag auch sein mag: Viele Kinder bringen besondere Stärken4mit. Sie sind kreativ, begeisterungsfähig, spontan und oft überraschend originell. Manche finden Lösungen, auf die andere gar nicht kommen würden. Und wenn sie im Hyperfokus sind, können sie eine beeindruckende Ausdauer zeigen – sei es beim Zeichnen, beim Sport oder beim Bauen mit Lego.

Manche Fachleute sprechen deshalb von Neurodiversität5: Menschen verarbeiten Informationen unterschiedlich, und genau das macht Vielfalt aus. Für Eltern kann dieser Blickwinkel entlastend sein: ADHS ist nicht nur ein Defizit, sondern auch eine andere Art, die Welt zu erleben.

Elternschaft mit einem Kind, das ADHS hat, ist manchmal anstrengend und fordert Geduld. Aber sie ist auch eine Einladung, gemeinsam neue Wege zu finden. Wenn wir lernen, ADHS nicht nur als Störung, sondern als andere Art des Denkens zu verstehen, öffnen sich Türen für mehr Verständnis und neue Möglichkeiten.

Wir können unsere Kinder nicht von jeder Schwierigkeit befreien – aber wir können sie begleiten, stärken und ermutigen. Und genau das macht den Unterschied.
 


1Vgl.  Martin, A. F. (2025). The changing prevalence of ADHD? A systematic review. Journal of Affective Disorders. Advance online publication.
2Vgl. Kılıç, K. M., & Ahmetoğlu, E. (2025). Executive functions in children with ADHD: A comprehensive bibliometric analysis. Applied Neuropsychology: Child. Advance online publication.
3Vgl. Attoe DE, Climie EA. Miss. Diagnosis: A Systematic Review of ADHD in Adult Women. J Atten Disord. 2023 May;27(7):645-657. doi: 10.1177/10870547231161533. Epub 2023 Mar 30. PMID: 36995125; PMCID: PMC10173330.
4Vgl. Schippers, L. M., Hoogman, M., & Greven, C. U. (2024). Associations between ADHD traits and self-reported strengths in the general population. Comprehensive Psychiatry, 152, Article 152461.
5Vgl. www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-gesundheit/neurodiversitaet-1300456
 

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